heute mal nach langer Zeit wieder ein Fundstück:
Luther hat sich nach anfänglichem Schwanken den Zustand der Toten als einen tiefen, traumlosen, raum- und zeitentrückten »Schlaf« ohne Bewußtsein und ohne Empfindungen vorgestellt. Er hat nicht anthropologisch von hier nach dort gedacht, sondern eschatologisch von dort nach hier: Wenn die Toten am jüngsten Tag von Christus auferweckt werden, wissen sie weder, wo sie waren noch wie lange sie tot waren: »Also werden wir plötzlich auferstehen am jüngsten Tag, daß wir nicht wissen, wie wir in den Tod und durch den Tod hindurchgekommen sind.«
Am jüngsten Tag erweckt Gott den ganzen Menschen, nicht nur seinen entseelten Körper:
»Wir sollen schlafen bis er kommt und klopft an das Gräblein und spricht: Dr. Martinus, stehe auf! Da werde ich in einem Augenblick auferstehen und werde ewig mit ihm fröhlich sein.«
»Sobald die Augen sich schließen, wirst du auferweckt werden; tausend Jahre werden sein, gleich als du ein halbes Stündchen geschlafen hättest. Gleichwie wir, wenn wir nachts den Stundenschlag hören, nicht wissen, wie lange wir geschlafen haben, so sind noch viel mehr im Tod tausend Jahre schnell weg. Ehe sich einer umsieht, ist er schon ein schöner Engel«
»Weil vor Gottes Angesicht keine Rechnung der Zeit ist, so müssen tausend Jahre vor ihm sein als wäre es ein Tag. Darum ist ihm der erste Mensch Adam ebenso nahe als der zum letzten wird geboren werden vor dem jüngsten Tag… Denn Gott sieht die Zeit nicht nach der Länge, sondern nach der Quer… Es ist vor Gott alles auf einmal geschehen.« »Für Gott ist es aber alles auf einem Hauffen…«
Daß der Tod ein »Schlaf« geworden ist, hat für Luther zwei Bedeutungen: einmal hat der Tod seine Macht über den Menschen verloren, zum anderen ist er nicht mehr das Letzte. Beide Bedeutungen setzen die Auferstehung Christi von den Toten voraus. Der Tod hat seine Macht über den Menschen an den auferstandenen Christus abgegeben. Für die Glaubenden hat der Tod zwar noch seine Gestalt, aber nicht mehr seine Gewalt. Er ist nicht mehr das Ende, sondern das Tor zur Auferstehung. Mit Hilfe des Bildes vom Haupt und Leib vergleicht Luther Tod und Auferstehung einem Geburtsvorgang: Das Haupt ist schon hinausgekommen, der Leib folgt, weil er nachgezogen wird. Christus ist schon zum ewigen Leben wiedergeboren, die Seinen folgen ihm nach.
Wie lange dauert es dann vom Zeitpunkt des eigenen, individuellen Todes bis zur eschatologischen Auferweckung der Toten? Welche Gedanken macht mir »die lange Todesnacht« (P. Gerhardt)? Luther antwortet nicht mit einer Projektion der Zeit und des Raumes der Lebendigen auf die Fortexistenz der Seele, wie es in der Purgatoriumslehre geschieht, sondern mit den Ausdrücken für die Zeit Gottes: »Plötzlich, in einem Augenblick« (1Kor 15,52). Der »jüngste Tag« ist der »Tag des Herrn« und die Zeit Gottes ist die Zeit der ewigen Gegenwart. Sind die Toten nicht mehr in der Zeit der Lebendigen, sondern in der Zeit Gottes, dann existieren sie in seiner ewigen Gegenwart. Wie lange ist es dann also von dem Tod eines Menschen in der Zeit bis zur endzeitlichen Auferweckung der Toten? Antwort: Genau einen Augenblick! Und wenn man fragt: Wo sind die Toten »jetzt«, gemessen an unserer Zeit?, so müßte man antworten: Sie sind schon in der neuen Welt der Auferstehung und des ewigen Lebens Gottes. So sagte Christus zu dem mit ihm am Kreuz Sterbenden: »Heute« – nicht in drei Tagen, nicht am jüngsten Tag, sondern: »Heute wirst du mit mir im Paradies sein« (Lk 23,43). Das ist das ewige Heute Gottes.
Jürgen Moltmann – Das Kommen Gottes: Christliche Eschatologie
https://blog.thomas-pape.de/2025/06/06/luther-und-seine-ansicht-zum-tod/